20. November 2025
„Ausgeklinkt“ von Roman Obrovski
Die USA investieren keinen Cent mehr in den Ukraine-Krieg.
Wozu auch? Nach dem kurzen, anfänglichen Zögern einiger Staaten ist dieser Krieg zum europäischen Selbstläufer geworden. Nun verdienen die USA an jedem weiteren Kriegstag: sie verkaufen militärische Verbrauchsgüter an EU-Staaten, die diese der Ukraine schenken, um Russland eine “strategische Niederlage” zu verpassen / um die Krim und die Ostukraine zurück zu erobern / um die Ukraine als Staat zu erhalten oder was immer die EU-Staaten sich vom Krieg erhoffen (1).
Das bisherige Resultat ist jedenfalls eine nachhaltige Spaltung Europas im Osten der Ukraine.
Aus dieser Spaltung Europas und der damit verbundenen Abnabelung der EU-Staaten vom Wirtschaftsraum Russland ziehen die USA bedeutende strategische Vorteile:
# Die EU-Staaten müssen fossile Energie vor allem aus US-Quellen einkaufen (2).
# Die EU-Staaten müssen ihre Exporte mehr denn je auf die USA und auf Länder ausrichten, die von den USA nicht sanktioniert werden. Das engt ihren ökonomischen Spielraum ein und macht sie erpressbar (Zollabkommen).
# Ein Gemeinsames Haus Europa ist vom Tisch: die EU-Staaten und Russland sind geopolitisch nachhaltig geschwächt und bleiben weit unter ihrem kombinierbaren Potential.
Die Folgen für die EU-Staaten sind dramatisch:
# Die exorbitant gestiegenen Energiepreise beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie.
# EU-Staaten mit hohen Standards werden als Wirtschaftsstandort unattraktiv. Die Exporte gehen zurück, Kapital wandert ab, nicht zuletzt in die USA: die ausländischen Direktinivestitionen in den USA nehmen zu, ausländische Direktinivestitionen in der EU gehen zurück (3).
# Der Versuch, diese Abwärts-Entwicklung mithilfe einer hoch subventionierten “Energiewende” auszubremsen ist krachend gescheitert. Die erneuerbaren, “grünen” Energiequellen samt erforderlicher Infrastruktur erweisen sich als sehr viel teurer als von den Betreibern behauptet, sind ungemein materialaufwändig und nicht in der Lage, fossile Energieträger kurz- und mittelfristig mengenmäßig und betriebswirtschaftlich gleichwertig zu ersetzen.
# Kostensenkungen werden nun anderen Orts gesucht: bei Löhnen, bei Sozial- und Gesundheitsleistungen, bei Pensionen (4). Zugleich soll die Arbeitszeit wieder ausgedehnt werden (Teilzeit-Debatte, Lebensarbeitszeit). Das bedeutet: soziale Spannungen nehmen zu, Verteilungskämpfe werden heftiger.
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Noch geht es vielen Menschen in den EU-Staaten so gut wie nie zuvor. Die meisten Menschen in der Welt leben unter weitaus schlechteren Bedingungen. Entscheidend für die erwartbare Zukunft freilich ist der Trend:
Außerhalb Europas steigt der Wohlstand. In Europa sinkt er. Von einem hohen Niveau. Aber er sinkt.
Was macht die Politik angesichts dieser Herausforderungen? An ambitionierten Vorhaben war und ist in der EU kein Mangel:
# Nach der “Lissabon-Strategie” wollte die EU im Rahmen des globalen Ziels der nachhaltigen Entwicklung ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt seinund bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum in der Welt … werden, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen
# Gemäß dem “Green Deal” soll die EU bis 2050 klimaneutral werden, Treibhausgase sollen gegenüber 1990 um mindestens 55 Prozent gesenkt werden. Das Ergebnis werde eine saubere, nachhaltige und energieeffizientere Industrie sein, die auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig ist.
# Die angejahrte “Digitale Agenda” der EU wird aktuell von Deutschland und Frankreich auf digitale Souveränität gebürstet. Europa müsse den Führungsanspruch bei innovativen KI-Technologien übernehmen, forderte Bundeskanzler Merz am 18. November in Anwesenheit des franzöischen Präsidenten.
Angesichts des technologischen Vorsprungs Chinas und der USA auf diesem Gebiet wie bei vielen anderen Zukunftstechnologien (5) sowie auf dem Hintergrund der Erfahrung, was aus den Zielen von Lissabon und des Green Deals in der Realität geworden ist, wirkt diese Ansage kühn – um nicht zu sagen: irreal.
Woher nimmt die EU das Kapital, die technologischen Spitzenkräfte und die politische Souveränität, die zur Umsetzung solch hochgestochener Vorhaben erforderlich sind? Ist das möglich beim Verharren in der ökonomischen und geopolitischen Sackgasse, in die sie ihr politisches Establishment geführt hat?
Würde ein Ausgleich mit Russland nicht zur politischen Entspannung, zur konstruktiven Umleitung von Investitionen führen? Wäre eine Rückkehr zu wechselseitig vorteilhaften Beziehungen nicht im Interesse der Europäer in West und Ost?
Für so eine Wende gibt es in der EU keine Azeichen. Die Regierenden halten am Ziel fest, Russland eine “strategische Niederlage” zu bereiten / Russland zu “ruinieren” / zu “entkolonisieren” / und investieren weiter in den Krieg.
Die USA und Russland hingegen scheinen nach jüngsten Medienberichten geheime Verhandlungen über einen konkreten Friedensplan fortzusetzen. Sollten die beiden Imperien einen “guten Kompromiss” finden – wie wird die EU, wie wird die Ukraine darauf reagieren?
Herr des Verfahrens sind die Europäer jedenfalls nicht. Aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.
Querverweise:
(1) Der ukrainische Staatsapparat samt Militär ist von Zuwendungen aus der EU und den USA so abhängig, dass er bei Einstellung dieser Zuwendungen kollabieren wird. Die USA haben ihre Zuwendungen eingestellt. Die budgetären Probleme der EU-Staaten mindern ihre Fähigkeit, die Ukraine weiter zu alimentieren. Das Vorhaben, eingefrorenes russisches Eigentum dafür zu verwenden, stößt auf gut begründeten Widerstand vieler Finanzfachleute. (auch die USA tun da nicht mit). Warum? Raub ist eine verlässliche alternative Finazierungsquelle, wenn der Beraubte wehrlos ist / wehrlos gemacht wird. Das trifft in diesem Fall nicht zu. Gefordert wird dieser Raub daher nur von Ländern / von Politikern, die glauben, das Risiko dafür anderen zuschieben zu können.
Die Staatsverschuldung der Ukraine überschreitet 2025 bereits die 100-Prozent-Quote. Dennoch will die Ukraine hundert Rafale-Kampfjets kaufen. Wer soll / kann / wird das letztlich bezahlen? Die höchsten Schuldenlasten gemessen in Prozent des BIPs in Ländern des “Westens” wiesen 2024 (STATISTA) Griechenland (155%), Italien (135%), USA (122%), Frankreich (113%), Belgien (105%), Spanien (102%) und Großbritannien (101%) auf. Russlands Staatsverschuldung betrug im Jahr 2024 rund 20,2 % des BIP, mit einer Prognose von 23,1 % für 2025.
(2) Deutschland hat die Sprengung von Nordstream widerstandslos akzeptiert, diesen Ansatz zu einer souveränen Energiepolitik aufgegeben und die Sprengung als transatlantischen Freundschaftsdienst eingestuft: Steinmeier hat Biden mit der Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik ausgezeichnet. – Selbst die Ukraine muss mittlerweile LNG-Gas aus den USA über Griechenland beziehen.
(3) Foreign direct investment (FDI) in Europe dropped to its lowest level in nine years in 2024, with France, Germany and the UK experiencing double-digit declines… An immediate recovery in FDI is unlikely in Europe (euronews).
(4) Jetzt rächen sich auch die Jahrzehnte langen, vielgestaltigen Frühpensionierungsaktionen (in Ö: Aktion 50/55, Sonderunterstützung, “Krisenregionen”, Altersteilzeit etc) und politisch verweigerte / zögerliche Reformen (Lebensarbeitszeit). Auf die virtu (Machiavelli) in Gesellschaft und Politik hat sich diese Politik nicht förderlich ausgewirkt. Beruflich leider auch befasst mit der Umsetzung solcher Aktionen bin ich seit 1985 dagegen aufgetreten. Weitgehend vergeblich. Freunde habe ich dabei nur wenige gewonnen.
(5) China led in just three of 64 technologies in 2003–2007 but is now the lead country in 57 of 64 technologies in 2019–2023, increasing its lead from our rankings last year (2018–2022), where it was leading in 52 technologies….. In terms of institutions, US technology companies, including Google, IBM, Microsoft and Meta, have leading or strong positions in artificial intelligence (AI), quantum and computing technologies. Key government agencies and national labs also perform well, including the National Aeronautics and Space Administration (NASA), which excels in space and satellite technologies. The results also show that the Chinese Academy of Sciences (CAS)—thought to be the world’s largest S&T institution —is by far the world’s highest performing institution in the Critical Tech Tracker, with a global lead in 31 of 64 technologies (an increase from 29 last year, see more on CAS in the breakout box on page 19)….. India now ranks in the top 5 countries for 45 of 64 technologies (an increase from 37 last year) and has displaced the US as the second-ranked country in two new technologies (biological manufacturing and distributed ledgers) to rank second in seven of 64 technologies. Another notable change involves the UK, which has dropped out of the top 5 country rankings in eight technologies, declining from 44 last year to 36 now. Besides India and the UK, the performance of most secondary S&T research powers (those countries ranked behind China and the US) in the top 5 rankings is largely unchanged: Germany (27), South Korea (24), Italy (15), Iran (8), Japan (8) and Australia (7). (Australian Strategic Policy Institute).

